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Ich sehe was, was du nicht siehst

Kurzzeitige Sehstörungen bei Migräne sind typisch und folgen oftmals einem charakteristischen Verlauf im Gesichtsfeld. Dieser Verlauf liefert uns wertvolle Informationen über die Krankheitsursache.

Wellen im gekrümmten Raum. Das klingt nach Einstein und der Gravitation, nach Relativitätstheorie also. Es ist aber auch Neurologie, denn unsere Hirn hat Windungen, die Menschen in Form visueller Halluzinationen bei Migräne im wahrsten Sinne des Wortes sehen können, weil eine Welle durch ihre gekrümmte Sehhrinde läuft.

Bis heute warten wir auf den direkten Nachweis von Gravitationswellen. Zumindest indirekt wurden Gravitationswellen aber nachgewiesen, durch ihre Wirkungen auf astronomische Objekte. Mit ähnlichen Problemen kämpften wir in der Migräneforschung. Der Nachweis der Migränewellen, der sogenannten Migräne mit Aura, gelang nun indirekt durch ihre Wirkungen auf unser Sehvermögen.

Wie messe ich Migräne?

Ohne moderne nicht-invasive Bildgebung kann eine Migräne-Attacke nicht objektiv nachgewiesen werden. Anders ist das zum Beispiel bei der Epilepsie. Dort schlägt zum einem der Elektroenzephalograf (EEG) an und zum anderen sind deren klinische Symtome leicht erkennbar. Dabei geht es weniger um einen Zweifel, ob jemand unter Migräne leidet, als um Messdaten, die Aufschluss über die genaue Krankheitsursache geben.

Der direkte Nachweis der Migränewellen ist schon vor einigen Jahren gelungen, mit der funktionellen Magnetresonanztomographie fMRT oder auch fMRI, mit dem i für imaging. Es gelang die stoffwechselbedingten Unterschiede durch einen veränderten Blutfluss bei Migräne während einer Attacke zu messen. Bei beiden Formen der Migräne, mit und ohne Aura, fand man Hinweise auf eine spreading depression bzw. deren Fingerabdruck (doi 10.1111/j.1526-4610.2008.01110.x). Spreading depression oder auch SD bezeichnet eine Erregungswelle, die mit wenigen Milimetern pro Minute durch die Hirnrinde wandert. Es gab nur ein Problem. Da die spreading depression ein neuronales Phänomen ist, wurde in Frage gestellt, ob mittels fMRI überhaupt eine direkte Messung gegeben ist, da keine neuronale Aktivität unmittelbar mit fMRI gemessen wird.

Die Frage, ob eine vaskuläre oder neuronale Störung, also SD, Ursache der Migräne ist, wird seit Jahren sehr strittig diskutiert, was auch an dem schwierigen Nachweis liegt. Der Neurologe Jens Dreier schreibt dazu in der Zeitschrift NeuroForum:

Die fehlende Messbarkeit der SD im Oberflächen-EEG hat dazu geführt, dass … [SD] über sechs Jahrzehnte keine Bedeutung für die Neurologie erlangte, obwohl … SD das mit weitem Abstand wichtigste pathophysiologische Phänomen des Hirns ist …

(Siehe dazu auch den Blogpost Killerwellen vom Ozean ins Gehirn, denn die Bedeutung, die Jens Dreier der SD zumisst, liegt insbesondere auch an deren Auftreten bei Schlaganfall.) Interesanterweise kommen nun neue eindeutige Belege für die neuronale spreading depression Theorie der Migräne aus einer anderen, ebenso indirekten Messung. Eine Messung, die betroffene Menschen zuhause mit einem Blatt Papier und Stift alleine machen können.

Sehstörungen bei Migräne

Migränewellen können typische Sehstörungen verursachen bevor der Kopfschmerz losgeht. Es gibt neben diesen Sehstörungen noch eine enorme Vielfalt weiterer neurologischer Störungen, die Folge einer Migränewelle sein können. Die Sehstörungen sind aber am leichtesten erfassbar.

Die Sehstörungen verlaufen im Gesichtsfeld meist in charakteristischer Weise. Es gibt keinen Zweifel, dass diese Sehstörungen eine neuronale Ursache haben. Natürlich könnte aber eine Änderung des Blutflusses zunächst die Hirnzellen beeinträchtigen und dieses dann zu Sehstörungen führen. In diesem Fall müßten die Sehstörungen mit den Territorien im Hirn, die von Blutgefäßen versorgt werden, übereinstimmen. Eine rein neuronale Ursache würde dagegen nicht von diesen Territorien abhängen. Allerdings würde ein neuronaler Mechanismus wie SD die Hirnrindenkrümmung respektieren und so zu den charakteristischen Mustern führen.

Folglich müssen wir einfach den Verlauf der Sehstörungen bei Migräne mit dem Pfad der Welle auf der Hirnrinde vergleichen.

Der Fim ist in HD Qualität und kann bei YouTube in dieser gesehen werden (Klick zunächst auf YouTube Logo am rechten Rand des Films über dem HD Zeichen).

In dem YouTube-Film sehen Sie zunächst einen an sich beliebigen Hintergrund, in diesem Fall unseren PLoS ONE Artikel, in dem die Ergebnisse präsentiert wurden. Auf diesem Hintergrund zeichnet sich eine typische Sehstörung ab. Sie beginnt kurz über meinem Vornamen.

Unmittelbar nach dem ersten Bemerken seiner migränösen Sehstörungen hatte ein Ingenieur diese aufgezeichnet. Über viele Jahre fertigte er über 300 Zeichnungen an. Der Film basiert auf einer dieser Zeichnungen. Um diese Zeichnungen mit der Anatomie vergleichen zu können, haben wir die Sehrinde mit der funktionellen Magnetresonanztomographie genau vermessen. Ab Sekunde 15 blendet der Film über. Rechts sehen Sie in einer Simulation was der Ingenieur sah. Er fixierte seinen Blick die gesamte Zeit auf das rote Kreuz am linken mittleren Rand eines Blattes. Jede Minute markierte er so mit einem Stift die aktuelle Position seiner Sehstörung, die sich relativ zum Blickpunkt bewegt.

Rechts im Film sehen Sie einen Schnappschuss dieser Szene. Für jeden anderen Beobachter sähe es so aus, als würde der Ingenieur planlos blaue Linien zeichnen.

Der Film läuft in Zeitraffer. Die erste Minute dauerte in Echtzeit 8 Minuten. Dann wird erneut überblendet. Es bleiben die blauen Linien und es fächert von oben ein Farbverlauf ins Bild, der den Azimut, eine Winkelkoordinate des Gesichtsfeldes, farblich kodiert. Dieser Farbkode wird noch ein mal benutzt, um das entsprechende Areal in der Sehrinde des Ingenieurs zu markieren. Die Sehrinde wird am Ende des Films vergrößert und isoliert im Vordergrund gezeigt.

Die Szene endet auf einem Bild ähnlich zu diesem.

Hier erkennen wir, dass unser Gesichtsfeld ortstreu in der Sehrinde repräsentiert ist. Zum Beispiel ist der Horizont des halbseitigen Gesichtsfeldes entlang der Einfaltung in der Sehrinde repräsentiert. Der untere Quadrant des halbseitigen Gesichtsfeldes liegt oberhalb der Repräsentation des Horizontes. Hier verläuft die Sehstörung in diesen einen aufgezeichneten Migräneanfall. Also in den cyan-blauen Bereich. Die Störung lief sogar noch weiter, nach den ersten 8 Minuten war zunächst eine Pause von 7 Minuten und dann lief die Störung nochmals 12 Minuten weiter.

Noch wilder wurde es bei einem anderen Migräneanfall, der sich im linken Gesichtsfeld abspielte. Also in der rechten Hirnhälfte und dort wiederum natürlich auch in der Sehrinde. Gerade im Vergleich dieser beiden Daten, konnten wir die Korrelationen zwischen anatomischen Landmarken und dem Verlauf der Sehstörung erkennen. Diese sprechen eindeutig für eine neuronale Ursache, also für die spreading depression Theorie der Migräne. Haben Sie ähnliche Messungen durchgeführt, oder wollen Sie solche Messungen in Zukunft durchführen? Wenn Sie uns solche Daten zur Verfügung stellen, können Sie einen aktiven Beitrag zur Migräneforschung leisten. Für genaue Anweisungen wenden Sie sich bitte an mich ().

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