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Inhaltsangabe Migränegehirn

Lange galt Migräne als unsichtbare Krankheit. Nichtbetroffene unterstellten gerne auch schon mal, Migräne sei eine eingebildete Krankheit, denn es gab keine apperative Diagnostik. Erst 2001 machte ein Kernspintomograph die im Kopf schmerzhaft durchlebten Vorgänge objektiv sichtbar: ausgehend vom hinteren Pol durchzog eine massive Aktivitätsfront langsam die halbe Hirnrinde — die Migränewelle.

Für das, was auf dem Computerbildschirm des Forschungslabors der Harvard Medical School plötzlich in bunten Flecken sichtbar wurde, liefert »Migränegehirn« eine allgemeinverständliche Erklärung. Diese Erklärung kommt von mir als Autoren, der selbst an der Erforschung der Migränewelle mit Hilfe von Tier- und Computermodellen beteiligt war mit dem Ziel einer digitalen Therapie, die das Migränegehirn als System begreift.x^

Vom Molekül zum Gehirn

Schon Mitte der 1980er Jahre nahm das Wissen über die Pathomechanismen der Migräne entscheidende Wendungen: im Kleinen wie im Großen.

Zum einem wurde ein Migränemolekül entdeckt, das der Schlüssel zu einer kausalen Therapie versprach werden zu können: das Neuropeptid CGRP. Die Herausforderung war, die Medikamentenfähigkeit dieses Zielmoleküls zu erforschen, d.h. Medikamente zu entwickeln, die hier spezifisch angreifen. Es sollte 40 Jahre dauern bis dieses Versprechen in Deutschland eingelöst und die erste CGRP-Therapie zugelassen werden konnte.

Und zum anderen wurde damals die Theorie der Migränewelle etabliert. Auch hier spielt ein Molekül eine Rolle, allerdings nur eine methodische: Xenon-133, ein radioaktives Isotop des chemischen Elements, lies als Radiopharmazeutikum die Migränewelle erstmals erscheinen. Der Nachweis war indirekt. In der Fachwelt war er deswegen umstritten. Es etablierte sich eine wissenschaftliche Mindermeinung, die in einigen Forschungslaboren, in einem davon sollte auch ich bald tätig sein dürfen, die Perspektive verschob.

Die mögliche Existenz einer solch massiven neuronalen Aktivitätsfront als makroskopische Veränderung, die große Teile des Gehirns durchwanderte, war deswegen faszinierend, weil man ssich auch aus solchen Erkenntnissen eine kausal angreifende Therapie versprach.

Vom der Chaos-Theorie zur Systemmedizin

Ein Nachdenken über eine Medikamentenfähigkeit half hier offensichtlich nicht, da die Migränewelle bisher keine Hinweise auf Zielmoleküle oder deren Rezeptoren lieferte. Natürlich wurde versucht, wieder mit der bewährtem Methode der pharmazeutischen Unternehmen voranzuschreiten und molekulare Zielorte zu identifizieren, die die Migränewelle blockieren. So entstanden die ersten Tiermodelle der Migräne. Wir werden in einem Beitrag die Maus-Grimassen-Skala kennenlernen. Dennoch bliebt für mich damals die andere Frage offen: wenn kein Molekül Zielort der Therapie ist, können wir auch auf anderen Wegen kausal vorgehen?

Die Theorie der Migränewelle stimmulierte so weitere Forschung über die Besonderheit des Gehirns von Menschen, die unter Migräne litten. Offenbar – und auch nicht verwunderlich – schlagen die Unterschiede auf der Ebene der Wirkung von Molekülen auf Zellen durch zum Verhalten von Zellverbänden und vom Gewebe weiter zum ganzen Organ mit den makroskopischen Eigenschaften der grauen Substanz und noch weiter vom Gehirn zu den anderen Organen bis schließlich zu dem ganzen Menschen in seiner Umgebung.

Vom Molekül zum Menschen: SystemmedizinVom Molekül zum Menschen: Systemmedizin

Anstatt ausschließlich über die Medikamentenfähigkeit anzusetzen, müssen wir einen systemischen Ansatz wählen. Wir müssen die komplexen und verschachtelten Prozesse in ihrer Gesamtheit als System verstehen. Ansätze dazu kamen aus der Physik: In den 1980er Jahren ging die sogenannte Chaos-Theorie auf ihren Zenith zu. Einer, der diese Entwicklung früh beobachte und richtig einordnete, war Oliver Sacks. Er erweiterte sein 1970 erstmals erschienenes Buch »Migräne« zusammen mit dem Physiker Ralph M. Siegel um ein Kapitel »Migräne als Universalie« und zog erste Schlüsse in eine Richtung, die heute als Systemmedizin bezeichnet wird.

Von drugability zur dtxability

Computermodelle bieten die Grundlagen für die Entwicklung eines solchen systemmedizinischen Ansatzes an dessen Ende die Fähigkeit steht, mit Hilfe eines digitalen Zwillings — ein personalisiertes Computermodell des Gehirns — das Migränegehirn zu manipulieren und damit eine klinische Wirkung zu erzielen. Statt Medikamentenfähigkeit (english drugability) nenne ich das DTx-ability oder dtxabilty (ausgesprochen tics-ability), wobei DTx für Digital Therapeutics steht. Die erste DTx Generation ist heute bekannt als digitale Gesundheitsanwendung (DiGA) mit denen als «App auf Rezept» neben Migräne auch viele andere Erkrankungen schon therapiert werden.

Im Zentrum dieses rückblickenden und zugleich wegweisenden Blogs »Migränegehirn« steht also eine neue digitale Medizin. Die systematische und verständliche Herleitung einer digitalen Migränetherapie wird als Brückenkopfstrategie für weitere Wirkweisen digitaler Medizin vorgedacht.

Früher vernachlässigt, heute Trendsetter

Migräne steht also nicht nur endlich auch mal im Zentrum der Aufmerksamkeit, sondern übernimmt eine Vorreiterrolle. Wir schauen in einem Beitrag darauf, wie unsere kulturellen Vorstellungen bestimmt haben, und dies teils immer noch tun, wessen Leiden in der Gesellschaft für legitim befunden wird, welche medizinischen Therapien wie vermarktet werden, wie Medizin praktiziert wird und wie Wissen über Krankheiten entsteht.

Meine Prognose ist, dass mit der Migräne die digitale Systemmedizin vorgedacht wird und zwar stellvertretend für viele weitere chronische Krankheiten des Nervensystems mit episodischen Verläufen, wie beispielsweise für Epilepsie, Multiple Sklerose, Schlaganfall, chronisch traumatische Enzephalopathie, Schizophrenie, Depression, Fibromyalgie, myalgische Enzephalomyelitis (chronisches Erschöpfungssyndrom) und zuletzt auch Long COVID.

Die Verwandtschaft dieser Erkrankungen wird erst durch digitale Medizin sichtbar. Es zeigt sich, dass eine rigide Krankheitslehre (Nosologie) aus digital-therapeutischer Sicht künstliche Einheiten bildet. Die angesprochene Leserschaft geht damit weit über die 10 Millionen Menschen hinaus, die in Deutschland an Migräne erkrankt sind.

Zunächst führt das Migränegehirn in die Geschichte der Migräneforschung ein. Der Fokus liegt nicht nur auf den letzten 35 Jahren, die ich aktiv miterleben durfte. Wir machen auch Ausflüge ins 18. Jahrhundert zu den Ursprüngen einer »organischen Physik« und noch weiter über 2000 Jahre zurück in die Vergangenheit, wo die heute aufaufbrechende rigide Nosologie auch noch unbekannt war und verblüffende systemmedizinische Ansätze mit Zitterrochen Anwendung fanden.

Erlebnisse der Menschen

Die einheiltiche, mathematisch-naturwissenschaftliche Erklärung wird immer verbunden mit Erlebnissen der Menschen, die unter Migräne leiden. Es waren diese Geschichten, die mich als Naturwissenschaftler motiviert haben, mein berufliches Leben ganz einer Krankheit zu widmen, unter der ich zum Glück selbst nicht leide.

Es geht also im Migränegehirn um mehr als die Entstehung und Verhinderung von starken Kopfschmerzen: Berichte über typische aber oft unbekannte andere Migränesymptome finden sich schon in der Apostelgeschichte über die Bekehrung des Saulus zum Paulus. Als Maßnahme gegen religiöse Erleuchtung schlug Marvin Minsky, Erforscher der künstlichen Intelligenz und Migräneleidender, vor, schon Kinder über die häufigsten Formen neurologischer Störungen bei Migräne aufzuklären.

Der Hirnforscher Bernhard Hassenstein sah es wiederum pragmatisch. Er konnte seinen seltsamen Erlebnissen während der Migräne Positives abgewinnen, bezeichnete die Migräne als »naturgegebenes Privileg, in sein eigenes Gehirn hineinzuschauen«. Wieder anders Lewis Carroll. Er verarbeitete seine Erfahrung künstlerisch im Kinderbuch »Alice im Wunderland«, das namensgebend für ein Begleitsyndrom der Migräne wurde. Oder auch Giorgio de Chirico, er wie viele andere Surrealisten, malte Migräneerscheinungen.

Und zu guter Letzt eine moderne Geschichte: eine Fernsehmoderatorin verlor 2011 durch einen Migräneanfall kurzzeitig ihre Sprache während einer Livereportage. Besonders interessant daran: Nur einen Monat vor diesem Ereignis ging ein ähnlicher Fall einer anderen Fernsehmoderatorin durch die Presse, nur war es diesmal ein epileptischer Anfall. Was, wenn wir, statt mit der Kamera in zwei entsetzte Gesichter, deren Blick verriet, dass irgendetwas Entsetzliches in Gehirn vorging, mit einem modernen Bildgebungsverfahren live an den Ort des Geschehens hätten schauen können?

Was im Migränegehirn geschieht

Was geschieht in solchen Hirngewittern des Migränegehirns? Was zeichnet ein Migränegehirn eigentlich genau aus?

Meine mathematisch-naturwissenschaftliche Perspektive auf die Migräne, die ich als theoretischer Physiker und nicht Betroffener einnehme, steht nicht zu den ganz persönlichen und sehr einschneidenden Erlebnissen einer Migräneattacke für einen Betroffenen. Weder die religiöse Interpretation, noch eine säkulare Form der künstlerischen Inspiration und schon gar nicht die aktive Auseinandersetzung mit dem eigenen Lebenstil, für die in dem Blog auch viele alltägliche Beispiele geliefert werden, stehen im Widerspruch zur Wissenschaft. Sie ergänzen und beleben die Wissenschaft. Der Neurologe und Zen-Praktizierender James H. Austin hat diese Befruchtung der harten Wissenschaft, die zu wichtigen Zufallsentdeckungen führen kann, als Altamirage bezeichnet — so der Titel des übergreifenden Blogs.

Vorteil Migränegehirn

Mein Ziel ist also kein reduktionistischer Ansatz, sondern eine lebensnahe Beschreibung, die natürliche Ursachen verständlich erklärt und Therapien daraus ableitet, mit dem Anspruch, das Migränegehirn so umzuprogrammieren, dass es die Anfallsbereitschaft für eine Migräneattacke “verlernt”.

Zu diesem Blick auf das Gehirn, mit der Fähigkeit Migräne (und andere Krankheiten) auch verlernen zu können, gehört die Frage nach dem Sinn der Migräne. Charles Darwin litt unter Migräne. Es ist nicht bekannt, dass er über deren evolutionären Vorteil nachdachte. Aber schauen wir, was die aktuelle Forschungsliteratur über Genetik der Migräne sagt. Was, wenn das Migränegehirn deutlich leistungsfähiger ist und die Nachteile in Form von Attacken heute digital therapiert und so verlernt werden können? Sind dann diese Menschen deutlich im Vorteil, so dass der Normalbüger erst wieder mit Neuroenhancement auf das Leistungslevel eines Migränegehirns kommen muss? Welche normative Idee steht hinter unserem Verständnis von Krankheit im Zeitalter einer digitalen Medizin? Auch solche Fragen wirft die digitale System-Medizin auf.

Aktuelle Therapien

Es tut sich viel. Alle neuen Therapiemethoden werden behandelt. Als Wissenschaftler-Unternehmer forsche ich noch aktiv und verfolge die neusten klinischen Studien. Etwa handtaschengroße, elektrische Stimulatoren, deren Wirkungsweise wir bis zu Scribonius Largus. Er war ein Zeitgenosse von oben erwähnten Paulus und Leibarzt des römischen Kaiser Claudius. Largus half mit elektrischen Zitterrochen Migräne zu behandeln.

Heute ist die Frage aktuell, ob Daith Piercing Migräne lindern kann. Bekannt wurde ein Piercer, der auf Facebook tausende Unterstützer hat und zur Verblüffung der medizinischen Fachgesellschaften mit der Behandlung schwerster akuter Migräneattacken warb. Warum es so nicht geht, das klären wir auf. Es wird auch ein kritischer Blick auf tragbare Nervenstimulatoren geworfen, die zwar behördlich zugelassen wurden doch kurz darauf für einige Zeit rezeptfrei gegen Migräne auf Amazon angeboten wurden. Wo liegen die Gefahren, wenn die Ärztinnen und Ärzte gar nicht mehr vorkommen?

Moderne Bildgebung, Computermodelle, Genetik, monoklonale CGRP-Antikörper als »magic bullets«, Wearables und Apps – längst ist Migräne nicht nur eine ernstgenomme Volkskrankheit, Migräne darf als Vorreiter der digitalen Transformation der Gesundheit gelten.

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